Vor Gott sind alle gleich angesehen


Wort zum Sonntag, 22.09.2024 (17. So. n. Trinitatis)

von Pastor Christoph Siedersleben, Ev.-luth. Kirchengemeinden Lehmke-Wieren und Nettelkamp
Christoph Siedersleben (Foto: Henrik Winkelmann)

Als der schwarze Pastor auf die Kanzel stieg, verließ die Hälfte der Schülerinnen und Schüler die Kapelle. Das geschah im Jahr 1975 an der deutschen christlichen Schule in Hermannsburg / Südafrika. Es waren noch Apartheid-Zeiten. Ein Jahr vor den Schüleraufständen in Soweto. Nelson Mandela saß auf Robben Island im Gefängnis.

Ich war damals erschüttert, aber gar nicht so sehr überrascht. Ich kannte ja den Rassismus meiner Mitschüler*innen. Mir tat vor allem der Pastor leid, der nur aufgrund seiner Hautfarbe so abgelehnt und verletzt wurde.
Üblicherweise wurden Schüler* innen, die die Andachten schwänzten, bestraft. In jener Woche aber geschah nichts. Keine Bestrafung. Keine Gespräche über das unchristliche Verhalten der Schüler*innen in einem christlichen Gotteshaus. Die Schüler*innen, die die Kapelle verlassen hatten, fehlten auch in den kommenden Tagen, während wir übrigen Schuler*innen mit dem schwarzen Pastor die Andachten feierten. 

Ich werde diese Situation mein Leben lang nicht vergessen. Und sie erschüttert mich auch jetzt noch, da ich darüber nachdenke und diese Zeilen schreibe. Ähnliches erlebte ich gut zwei Jahre später noch einmal. Ein Theologieprofessor aus dem nahe gelegenen theologischen Seminar kam mit einer schwarzen Frau in den Gottesdienst in die Peter-und-Paul-Kirche in Hermannsburg. In der Folge gab es viele Gemeindeversammlungen, in denen wegen dieses Gottesdienstbesuchs heftig gestritten und diskutiert wurde. Eins der Argumente: Die deutsche Peter-und-Paul-Gemeinde hatte den schwarzen Lutheranern extra eine eigene Kirche gebaut, damit diese nicht in die ihre kamen. Und nun war das doch passiert. Es gab viel Aufregung. Und der Rassismus zeigte mal wieder sein hässliches Gesicht.

Diese Erinnerungen kamen mir in den Sinn, als ich einen der Bibeltexte für den kommenden Sonntag las: „Ihr gehört alle zu Christus, denn ihr seid auf seinen Namen getauft. Jetzt ist es nicht mehr wichtig, ob ihr Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie, Männer oder Frauen seid: In Jesus Christus seid ihr alle eins.“

Wie schwer ist es doch, diese einfache Wahrheit zu leben. Ob Männer oder Frauen, ob Weiße oder Schwarze, ob Christen oder Juden, ob Reiche oder Arme, vor Gott sind alle gleich angesehen. Da gibt es keine Unterschiede.
Meine Erinnerungen aus meiner Jugend zeigen, wie schwer es ist, diese Überzeugung zu leben. Aber auch die aktuelle gesellschaftliche Diskussion um Flüchtlinge und Asylsuchende macht deutlich, wie schwer es uns Menschen fällt, einander als Gleichwertige anzusehen.

In Südafrika haben sich die Dinge erst zum Besseren verändert, als die Menschen aufeinander zugingen, sich kennenlernten. Seither haben auch die beiden Gemeinden in Hermannsburg gemeinsame Begegnungen und Gottesdienste.

Wenn man einander kennt, fällt es leichter, den anderen zu akzeptieren. Und wenn man einander kennt, fällt es auch leichter, in einer neuen Umgebung anzukommen. Vielleicht ist das auch ein Ansatz bei uns. Mehr Begegnung. Mehr Vermittlung gegenseitiger Werte. Mehr Verständnis für Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Das hilft, einander mit anderen Augen zu sehen.

Pastor Christoph Siedersleben
Ev.-luth. Kirchengemeinden Lehmke-Wieren und Nettelkamp